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Fotos: © 2007 meerwandern
MARE·VITAE
DER BALTISCHE PATIENT
Schlimm, was das kleine Meer alles schlucken muss!
Die einzige Therapie, die wirklich hilft, ist ein kräftiger Sturm aus West.

Von Olaf Kanter

Oje, arme Ostsee. Die Wasserwerte sehen wirklich gar nicht gut aus. Zu wenig Sauerstoff, kaum Salz und ganz wenig Fische. Stattdessen Stickstoff und Phosphor! Schwefelwasserstoff, Kadmium, Kupfer, Chlor! Überall machen sich Blaualgen breit, in übel riechenden Fladen treiben sie an die Strände. Schon einmal barfuß im Ostseewasser gestanden? Die Füße sind nicht mehr zu sehen, so dick ist die Suppe.

Ganz klar, die Ostsee erstickt. Wenn sie nicht vorher an ihrem hässlichen Ausschlag zu Grunde geht oder an den Giften, die der Mensch ihr täglich einflößt. Allerhand Experten und Vertreter der Presse versammeln sich am Krankenbett des baltischen Patienten, um sein baldiges Ableben zu verkünden. Doch dann fegt ein Sturm aus West über das Meer. Schon tags darauf geht es dem Patienten viel besser, und auch die Propheten des Untergangs sind verschwunden. Wie steht es denn nun um die sieche See?

Bodo von Bodungen, Leiter des Instituts für Ostseeforschung in Warnemünde, kennt die Krankenakte bis ins feinste Detail - keine erfreuliche Lektüre, wirklich nicht. Dennoch ist er von der Robustheit des Patienten überzeugt. Seine Prognose: "Die Ostsee wird uns alle überleben. Nicht nur unsere Generation, ich meine den Menschen überhaupt."

Schon die Metapher vom Patienten - "anthropozentrischer Unsinn!" - geht ihm eigentlich gegen den Strich. Wenn überhaupt, dann müsse man von einer chronischen Krankheit reden, oder, genauer: von einem Geburtsfehler. Denn die Ostsee leide seit ihrer Entstehung an einem Mangel, der nicht zu kurieren ist.

Sie ist wie die Nordsee ein Nebenmeer des Atlantiks, aber ihr Weg in den offenen Ozean wurde bald nach dem Ende der Eiszeit verbaut. Vom Gewicht der Gletscher befreit, tauchte die Erdkruste vor 10000 Jahren wieder etwas höher aus dem darunter liegenden Mantel auf; die Landmassen wurden angehoben, zwischenzeitlich war die Ostsee sogar ganz abgeschnitten von der Nordsee. Erst ein allgemeiner Anstieg des Meeresspiegels ließ wieder Salzwasser über die Schwelle zwischen schwedischem Festland und den dänischen Inseln schwappen.

Durch dieses Nadelöhr muss das Frischwasser noch heute; der Gesamtquerschnitt des Zuflusses beträgt gerade 0,35 Quadratkilometer. Zu wenig, um das baltische Wasservolumen von 21600 Kubikkilometern zügig auszutauschen. Ein Liter Wasser, der zwischen Helsingør und Helsingborg in die Ostsee fließt, braucht 25 bis 35 Jahre, bis er wieder zurück in die Nordsee gelangt. Und genau diese Unterversorgung mit Frischwasser ist schuld an den Defiziten im Salz- und Sauerstoffhaushalt des Baltischen Meeres.

Die Ostsee ist eines der größten Brackwassermeere der Erde; mehr als 200 Flüsse und der Niederschlag liefern einen Überschuss an Süßwasser, das - weil leichter - an der Oberfläche in Richtung Westen strömt. Der Nachschub an schwerem Salzwasser fließt in der Tiefe über die Schwellen am Eingang zur Ostsee. Wie weit das Nordseewasser nach Norden und Osten vordringt, hängt von Wind und Wetter ab; nach Osten hin nimmt der Salzgehalt ständig ab. Im Kattegat liegt er noch bei etwa 30 Gramm je Liter, in den entlegenen Zipfeln des Finnischen oder Bottnischen Meerbusens sind es weniger als fünf Gramm.

Wie jedes Brackwasser mit schwankender Salinität ist die Ostsee vergleichsweise arm an Tier- und Pflanzenarten, und die wenigen Geschöpfe, die es hier aushalten, leben häufig an der Grenze der Bedingungen, die für sie noch tolerabel sind. Wenn in einem Jahr mit häufigen Weststürmen besonders viel salzhaltiges Wasser in die Ostsee gelangt, dann kann beispielsweise der Seestern auch östlich der Lübecker Bucht noch existieren. Sinkt der für ihn lebenswichtige Salzgehalt in den Folgejahren, geht er dort zu Grunde.

Prompt klingeln die Telefone bei den Ostseeforschern in Warnemünde: Kippt jetzt die Ostsee um? Wie ernst ist die Lage? Der Meeresbiologe von Bodungen antwortet mit philosophischer Ruhe und doch wissenschaftlich korrekt: "Das Werden und Vergehen gehört von jeher zu den natürlichen Vorgängen in der Ostsee."

Dasselbe gilt für den häufig wiederkehrenden Mangel an Sauerstoff in den tieferen Regionen der baltischen See. Im Gotlandbecken zum Beispiel bilden sich dann anoxische Zonen - Bereiche ohne jeden Sauerstoff, eine lebensfeindliche Welt. Ursache ist die charakteristische Schichtung des Wassers: oben die wärmere, leichtere Schicht geringer Salinität, darunter kälteres, schwereres Wasser höheren Salzgehalts.

Ein Liter Wasser, der zwischen Helsingør und Helsingborg in die Ostsee fließt, zirkuliert dort 25 bis 35 Jahre, ehe er wieder zurück in die Nordsee gelangt
In der Terminologie der Ozeanographen heißt die Grenze, die Ober- und Unterwasser trennt, thermohaline Sprungschicht; sie liegt zwischen 40 Meter (im Arkonabecken) und 80 Meter Tiefe (im Gotlandbecken) und verhindert effektiv den Austausch zwischen oben und unten. Die Folge: Das Tiefenwasser wird nur selten mit Frischwasser durchmischt - dann, wenn es aus West stürmt.

Bleibt dieser Salzwassernachschub länger aus, wie in den Jahren von 1977 bis 1993, geht der Ostsee in der Tiefe die Luft aus: Bakterien zersetzen das organische Material, das aus den oberen Wasserschichten absinkt, und zehren dabei den Sauerstoff auf. Die Bewohner der Tiefe kommen um. Nur Schwefel atmende Bakterien, wie die Beggiatoa, fühlen sich im fauligen Schlamm noch wohl.

Wenn schon die Natur dem Leben im Baltischen Meer derart prekäre Bedingungen diktiert, wie wirkt sich dann erst der Einfluss des Menschen auf das System aus? Die Ostsee ist wahrscheinlich das am stärksten belastete Meer auf dem ganzen Planeten. Mehr als 85 Millionen Menschen leben an seinen Ufern; aus ihren Städten strömen Abwässer in die See, Flüsse bringen zigtausend Tonnen Stickstoff und Phosphor aus der Landwirtschaft, aus der Industrie kommen allerhand Chlorverbindungen und Schwermetalle hinzu, und selbst die Atmosphäre lädt ihre Fracht im Meer ab: Ammoniak aus der Tierhaltung, Stickoxide aus der Verbrennung fossiler Energieträger.

Rund 2000 Schiffe sind zu jeder Zeit auf der Ostsee unterwegs, 500 Millionen Tonnen an Gütern bewegen sie im Jahr. Dabei gehen immer wieder große Mengen Öl über Bord - durch Unfälle, vor allem aber durch illegales Lenzen von Rückständen. Auf den großen Fähren reisen jedes Jahr 70 Millionen Passagiere, die 432000 Kubikmeter Abwässer produzieren; auch sie werden zum Großteil auf See entsorgt. Bliebe noch die Fischerei, die mit den Scherbrettern ihrer Schleppnetze den Boden des Meeres umpflügt; die Fischer haben die Dorschbestände inzwischen so weit ausgedünnt, dass ihr Ertrag auf das Niveau von 1960 zurückgefallen ist.

Die Hypothese also, dass der Mensch den Geburtsfehler des baltischen Patienten mit seinem Zutun noch verschärft, klingt zunächst plausibel. Der Verdacht liegt nahe, dass Nährstoffe aus der Landwirtschaft - ausgeschwemmter Dünger, ausgewaschene Gülle - auch mariner Flora beste Wachstumschancen bescheren. Aus der Ostsee, einem oligotrophen (nährstoffarmen) Gewässer, wird dank des Menschen - Tischlein, deck dich! - in wenigen Jahrzehnten ein eutrophes (nährstoffreiches) Meer. Resultat der unbeabsichtigten Überdüngung: Algen blühen und breiten ihre Teppiche aus, die gesamte biologische Produktion läuft auf Hochtouren.

Doch jeder Brocken, der von diesem Festmahl in die Tiefe sinkt, verursacht biochemische Abbauprozesse, die Sauerstoff fressen und Faulgase produzieren. Oben das pralle Leben, unten der Friedhof der Meeresbodenbewohner: Auf etwa 20 Prozent des Ostseegrunds herrscht heute Sauerstoffmangel. Wie groß ist der Anteil der Eutrophierung und ergo des Menschen an dieser Katastrophe?

Die Wissenschaftler des Instituts für Ostseeforschung haben in die Vergangenheit geschaut, um diese Frage zu beantworten: Wie hat das System Ostsee funktioniert, ehe der Mensch auftauchte? Im Meeresboden lässt sich der Gesundheitszustand der Ostsee bis in ihre Frühgeschichte zurückverfolgen. Sedimente aus den Jahren guter Sauerstoffversorgung zeigen Bioturbation - Spuren von Würmern und anderen Bodenbewohnern, die den Grund bearbeitet haben. Ungestört geschichtete Sedimente hingegen sind ein Hinweis auf Anoxie.

Das Ergebnis der Bohrungen: Durchwühlte und laminare Sedimente wechseln einander ab. Es hat also schon immer Phasen der Anoxie in der Ostsee gegeben. "Wir haben versucht, den Rhythmus des Wechsels zwischen sauerstoffreichen und sauerstoffarmen Zeiten mit anderen Zyklen in Verbindung zu bringen", berichtet Bodo von Bodungen, "aber ohne Erfolg. Wir können bis jetzt nicht erklären, warum es immer wieder auffällige Phasen der Stagnation gegeben hat." Nur ein Fazit kann der Meeresbiologe schon heute ziehen: "Vor diesem Grundrauschen der Natur können wir nicht ausmachen, welche Folgen menschlichem Wirtschaften zuzuschreiben sind."

1974 einigten sich die damals sieben Anrainerstaaten auf eine Konvention zum Schutz der Ostsee, mit ihrer Ratifizierung 1980 machte sich die Helsinki-Kommission an die Umsetzung der Ziele: die Einhaltung von Grenzwerten, das Verbot von Pestiziden, die Bekämpfung von Belastungsschwerpunkten an 132 ausgewählten "Hot spots" - um nur die wichtigsten zu nennen. 1988 definierten die beteiligten Länder ein weiteres konkretes Ziel: Bis 1995 sollte der Stoffeintrag um 50 Prozent verringert werden, um einen Zustand wie vor etwa 50 Jahren herzustellen. Erste Erfolge sind in Sicht, 26 Belastungsschwerpunkte entschärft. Doch die Therapie ist immens teuer: Auf zehn Milliarden Euro wird allein der Finanzbedarf an den verbleibenden "Hot spots" geschätzt.

Abgesehen davon, dass es keine Alternative zur radikalen Kur gibt, halten die Warnemünder Forscher die vereinbarten Werte und Ziele für eher willkürlich gewählt. "Vor 50 Jahren befand sich die Ostsee ausgerechnet in einer ausgeprägten anoxischen Phase", erklärt von Bodungen, "und wie viele Prozentpunkte wir bei der Rückführung der Emissionen benötigen, kann niemand mit Genauigkeit sagen. Wie sich Veränderungen im System auswirken, ist leider noch nicht vorhersehbar."

Und während die Experten am Krankenlager des baltischen Patienten noch lernen, wie sein Stoffwechsel funktioniert, muss er weiter schlucken, was ihn doch krank macht. Wie lässt sich das bloß aushalten? Mit der Hoffnung, dass der nächste Sturm ein wenig Linderung bringt.
Jeder Brocken, der in die Tiefe sinkt, verursacht biochemische Abbauprozesse, die Sauerstoff fressen und Faulgase produzieren.
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Autor: Olaf Kanter